Jugendliche der Olof-Palme-Gesamtschule lernen über das Projekt „Zweitzeugen“ die bewegende Geschichte der Holocaust-Überlebenden Erna de Vries kennen.
(Neue Westfälische 20.12.2024, Ein Bericht von Björn Kenter)
(Foto oben: Katharina Müller-Spirawski (l.) hat Erna de Vries vor einigen Jahren besucht und sie interviewt Foto: Jessica Eberle.)
Hiddenhausen. Es sind nur Bilder auf einer Leinwand und Tonbandmitschnitte, die die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10a der Olof-Palme-Gesamtschule (OPG) von Erna de Vries zu sehen und zu hören
bekommen. Und dennoch ist die Präsenz der Holocaust Überlebenden im Klassenraum zu spüren: Aufmerksam hören die 24 Jugendlichen zu, als Katharina Müller-Spirawski vom Verein „Zweitzeugen“
die emotional aufwühlende Lebensgeschichte von Erna de Vries erzählt. Diese wurde 1923 geboren und
wuchs als Kind von katholisch/ jüdischen Eltern in Kaiserslautern auf. Schon als kleines Mädchen wurde sie nach der Machtergreifung der Nazis in der Schule gemobbt und auf der Straße bedroht – weil sie Jüdin
war. Am Tag der Novemberpogrome, dem 9. November 1938, versteckte sie sich am Grab ihres Vaters vor dem gewalttätigen Mob, der durch die Straßen zog. Später wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert, obwohl sie als Halbjüdin nicht auf der Deportationsliste stand. Sie wollte ihre Mutter jedoch nicht alleine lassen.
Als Überlebende hat sie den Auftrag der Mutter erfüllt
Im Vernichtungslager musste sie unter schlimmsten Bedingungen bis zur völligen Erschöpfung arbeiten und wurde schließlich als sogenannter Mischling ersten Grades ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht – wohl ein Grund, warum sie den Holocaust überlebte.
Für „Zweitzeugen“ hat Erna de Vries ihre Geschichte bis zu ihrem Tod im Jahr 2021 in vielen Schulen in Deutschland erzählt und damit einen Auftrag ihrer Mutter erfüllt. „Du wirst überleben, und dann wirst du erzählen, was man mit uns gemacht hat“, hatte ihr diese vor ihrer Ermordung in Auschwitz mit auf den Weg gegeben. Erna de Vries ist eine der 38 Überlebenden des Holocausts, die der Verein „Zweitzeugen“ interviewt und deren Geschichten er dokumentiert hat, um sie an Kinder und Jugendliche in Schulen weiterzugeben. Auch an Schulen im Kreis Herford bietet der Verein jetzt Workshops an, um über die NS-Zeit aufzuklären und die Schüler zu befähigen, um sich aktiv gegen Antisemitismus und Diskriminierung
einzusetzen. Ermöglicht wird der Besuch an der OPG und anderen Schulen im Kreisgebiet durch eine finanzielle Unterstützung der Sparkassenstiftung Herford in Höhe von 30.000 Euro. Die Resonanz der
Schulen auf die Workshop-Angebote sei sehr gut gewesen, sagt Katharina Müller-Spirawski, die mehrere Stunden in der Klasse verbringt. Bis Mai kommenden Jahres seien die Besuche an den Schulen bereits
terminiert. „Wir haben sehr viele Rückmeldungen bekommen“, freut sich die Mitgründerin von „Zweitzeugen“. An manchen Schulen seien sie sogar drei in Klassen zu Gast. Am häufigsten nachgefragt
seien die Jahrgänge 9 und 10. Die Schüler und Schülerinnen an der OPG seien mit der Materie recht gut vertraut gewesen, hat Müller-Spirawski festgestellt. „Wir haben auch rege Diskussionen geführt.“ Eine Schülerin sei auch bereits vor Ort in Auschwitz gewesen und entsprechend gut informiert, was zum Beispiel
die antijüdischen Gesetze angeht. „Sie hatte ein gutes Bild von damals. Dafür ist im Unterricht nicht immer Platz“, bedauert Müller-Spirawski. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern im Gaza-Streifen sei oft ein sehr anstrengendes Thema, vor allem an Berufskollegs. „Da ist auch viel Populismus im Spiel“,
sagt Müller-Spirawski. „Ich versuche mich dann mit der Klasse zu einigen, dass es auf beiden Seiten viele Grausamkeiten gibt.“ In den zehnten Klassen hingegen seien die Schülerinnen und Schüler meist noch nicht so politisiert. Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler seien ausnahmslos positiv gewesen,
bilanziert Klassenlehrerin Petra Rodeland-Hönig. „Wir haben in einer Klassenstunde noch einmal darüber gesprochen, auch darüber, welche Bedeutung dieses Thema für die Gegenwart hat.“ Gemeinsam habe die Klasse auch eine Dokumentation auf Youtube über Erna de Vries angeschaut, in der diese auch selber zu Wort kommt. „Das hat die Klasse eingefordert. Alle waren total konzentriert und von der Geschichte von Erna de Vries gefesselt. So habe ich die Klasse nur selten erlebt“, sagt Petra Rodeland-Hönig. Das habe auch daran gelegen, dass die Holocaust-Überlebende als Zeitzeugin ein gewisses Charisma gehabt habe. So sei es mucksmäuschenstill im Raum gewesen. „Alle waren ganz still, das Schicksal von Erna de Vries hat die Schüler berührt“, hat Rodeland-Hönig festgestellt.
(Foto unten: Katharina Müller-Spirawski vom Projekt „Zweitzeugen“ erzählte den Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse auch von der Lebensgeschichte von Erna de Vries. Foto: Björn Kenter)
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